Ein Riss des vorderen Kreuzbandes betrifft nicht nur das Band selbst – er verändert auch, wie das Knie gesteuert und wahrgenommen wird. Das liegt daran, dass sich direkt nach der Verletzung im Körper komplexe Prozesse abspielen, die Muskeln, Nerven und sogar das Gehirn beeinflussen.
Im Teil 1 dieser Blogserie haben wir uns angesehen, was nach einer Verletzung im Knie passiert und weshalb der Muskel „abschaltet“. Nun widmen wir uns den neuroplastischen Veränderungen – ganz nach dem Motto „Train the Brain“ 🧠
👣 Propriozeption – das innere „GPS“ des Knies
Normalerweise verraten uns kleine Rezeptoren im Knie jederzeit, ob es gebeugt oder gestreckt ist. Dieses Gefühl für die Gelenkstellung heißt Propriozeption.
Nach einer Kreuzbandverletzung sind diese Signale gestört. Das Gehirn hilft sich, indem es die Augen stärker einsetzt. 👀
➡️ Das Problem: Statt die Umgebung beim Sport im Blick zu haben, muss der Fokus ständig auf das eigene Knie gerichtet werden.
🦵 Warum der Oberschenkel nicht „anspringt“
Viele kennen es: Nach der OP fühlt sich der Oberschenkel schwach an, obwohl der Muskel gar nicht verletzt ist. Das liegt an der sogenannten arthrogenen Muskelinhibition (= der Muskel ist gesund, aber das Gehirn kann ihn wegen gestörter Signale aus dem Knie nicht richtig einschalten).
👉 Studien zeigen, dass das Gehirn deutlich mehr „Strom“ ⚡ in den Motorikkortex schicken muss, um den Quadrizeps zu aktivieren. Heißt: Der Muskel gehorcht nicht so leicht – er braucht mehr Ansteuerung.
🧩 Das Gehirn muss mitdenken
Weitere Untersuchungen haben gezeigt:
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Klassische sensomotorische Hirnareale sind weniger aktiv.
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Dafür arbeiten Planungsareale stärker – das Gehirn muss also mehr nachdenken, um einfache Bewegungen zu machen.
Das Ergebnis: Bewegungen laufen weniger automatisch, weniger effizient und fühlen sich „steif“ oder „unsicher“ an.
🔎 Was bleibt nach der OP?
Auch nach einer erfolgreichen Kreuzband-OP ist die Steuerung nicht wieder wie vorher. Studien fanden:
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Mehr Aktivität im Motorikkortex → mehr Aufwand, um Muskeln zu aktivieren.
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Mehr Aktivität im visuellen Kortex → stärkere Abhängigkeit von den Augen. 👀
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Weniger Aktivität im Kleinhirn → schlechtere automatische Korrekturen. ⚖️
Kurz gesagt: Bewegungen sind stärker kopfgesteuert, weniger flexibel und weniger anpassungsfähig – egal ob im Alltag oder im Sport.
🚫 Spiegel-Übungen? Nicht immer sinnvoll
Viele klassische Reha-Übungen, z. B. Squats vor dem Spiegel oder Quad Sets mit Blick auf den Oberschenkel, können die visuelle Abhängigkeit sogar noch verstärken. Das Gehirn verlässt sich dann immer mehr auf die Augen – ein Muster, das wir eigentlich durchbrechen wollen.
✅ Neue Ansätze für die Reha
Damit Bewegungen wieder automatischer und sicherer werden, schlagen wir visuell-motorisches Training vor:
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🕶 Visuelle Einschränkungen: Training mit Augenbinde, teils durchlässige Brille, geschlossenen Augen.
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🎾 Dual-Task-Übungen: Bewegungen mit zusätzlichen Aufgaben kombinieren, z. B. Ball fangen während einer Übung.
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🔊 Reaktive Aufgaben: Auf akustische oder visuelle Signale reagieren – ähnlich wie in realen Situationen.
📌 Fazit
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🧠 Das Gehirn verändert nach einer Kreuzbandverletzung die Bewegungssteuerung.
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👀 Viele verlassen sich zu stark auf die Augen.
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💪 Der Quadrizeps ist schwerer zu aktivieren, auch wenn er gesund ist.
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🎯 Reha sollte nicht nur Muskeln, sondern auch das Nervensystem trainieren – mit smartem, visuell-motorischem Training.
Quellen:
Lepley, A. S., Gribble, P. A., Thomas, A. C., Tevald, M. A., Sohn, D. H., & Pietrosimone, B. G. (2015). Quadriceps neural alterations in anterior cruciate ligament reconstructed patients: A 6-month longitudinal investigation. Scandinavian journal of medicine & science in sports, 25(6), 828–839. https://doi.org/10.1111/sms.12435
Kapreli, E., Athanasopoulos, S., Gliatis, J., Papathanasiou, M., Peeters, R., Strimpakos, N., Van Hecke, P., Gouliamos, A., & Sunaert, S. (2009). Anterior cruciate ligament deficiency causes brainplasticity: a functional MRI study. The American journal of sports medicine, 37(12), 2419–2426. https://doi.org/10.1177/0363546509343201
Grooms, D. R., Page, S. J., Nichols-Larsen, D. S., Chaudhari, A. M., White, S. E., & Onate, J. A. (2017). Neuroplasticity Associated With Anterior Cruciate Ligament Reconstruction. The Journal of orthopaedic and sports physical therapy, 47(3), 180–189. https://doi.org/10.2519/jospt.2017.7003
Grooms, D., Appelbaum, G., & Onate, J. (2015). Neuroplasticity following anterior cruciate ligament injury: a framework for visual-motor training approaches in rehabilitation. The Journal of orthopaedic and sports physical therapy, 45(5), 381–393. https://doi.org/10.2519/jospt.2015.5549